Stets aufs Neue fasziniert und beängstigt es mich, wie viel giftiger oder anders gefährlicher Abfall unkontrolliert an den Straßenrändern deponiert wird. Dabei hat Deutschland eines der besten Entsorgungssysteme der Welt. Hierzulande gäbe es gar keinen Grund, zwischen Müll zu leben und durch dreckverkrustete Straßen zu waten.
Wenn es nicht einen nennenswerten Bevölkerungsanteil gäbe, der genau darauf abfährt. Leider kenne ich keine Statistik darüber, wie viele Einwohner sich wohlig in ihren Restmüll kuscheln, statt die “graue Tonne” zu nutzen. Jedoch treffe ich täglich mindestens ein Exemplar, das auf die von seinem eigenen Steuer- und Fahrkartengeld aufgestellten Mülltonnen verzichtet, um sich länger am Abfall erfreuen zu können.
Was treibt die Müll-Szene an, täglich erneut ihre Stadt mit subjektiv ästhetischem Giftmüll zu dekorieren, wenn doch alle paar Wochen die Stadtreinigung alles zerstört? Ist das Schwarmkunst oder ein archaischer Trieb? Passiert die Stadtvermüllung gar im Reflex oder werden die Täter für den Moment zu sogenannten “Bewusstseinszombies”?
Aus rein wissenschaftlichem Interesse suche ich gelegentlich den Kontakt zu Szene-Mitgliedern. Erschwert wird das leider durch ihr Aggressionsniveau. Auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird, macht Nikotin extrem angriffslustig. Deshalb empfiehlt es sich, das Exemplar aus sicherem Abstand zu beobachten und erst bei augenscheinlicher Harmlosigkeit anzusprechen.
Leute der Müll-Szene zuzuordnen, denen ihr Müll nur versehentlich aus der Hand gerutscht ist, wäre ungerecht und würde zudem das Ergebnis verfälschen. Wenn ich ein harmlos wirkendes Exemplar beim Herumwerfen von Müll beobachte, setze ich deshalb ein freundliches Lächeln auf. Ein guter Erstkontakt-Satz ist: “Entschuldigung, Sie haben da etwas verloren.”
Nach der ersten Ansprache erkennt man den Müll-Szenegänger an einem der typischen Reaktionsmuster:
An diesem Punkt gilt es, die Situation in ein zivilisiertes Gespräch überzuleiten.
Im ersten Fall, dem freiwilligen Outing, ist ein würdiger Gesprächsverlauf am ehesten möglich. Als Beispiel folgt die Zusammenfassung eines Gesprächs mit einem potentiellen Szene-Aussteiger, den ich neulich nach Feierabend kennenlernen durfte.
Umgebung: Straßenbahn-Haltestelle, drei Schritte neben dem Mülleimer, ca. 17:30 Uhr. Ein Raucher wirft seine Zigarette ins Gleisbett.
Fazit: Der Proband zeigt keine Aggressionen und zieht es zumindest verbal in Betracht, eines Tages die öffentliche - auch von ihm mitbezahlte - Entsorgungsinfrastruktur zu nutzen.
Im zweiten Fall, dem Sprachgestörten, sollte der Forscher schnell in die Bahn springen, bevor der Proband seine verbale Unterlegenheit mit Gewalt kompensiert. Es folgt die Zusammenfassung eines Gesprächs mit einer nahe kommunikationsunfähigen Dame.
Umgebung: Straßenbahn-Haltestelle, direkt neben dem Mülleimer, ca. 08:00 Uhr. Eine Raucherin wirft ihre Zigarette übers Geländer auf die Autostraße.
Fazit: Nikotin verursacht bei manchen Menschen schwere Kommunikationsstörungen. Ihr Sprachdefizit kompensieren die Opfer schnell mit Gewalt. Aus Selbstschutz sollte das Experiment abgebrochen werden, sobald sich der Proband als sprachgestört herausstellt.
Im dritten Fall, der totalen Ignoranz, ist ebenfalls kein Gespräch möglich. Allerdings scheint der Proband über eine innere Gedankenwelt zu verfügen, so dass die Hoffnung berechtigt ist, dass er dennoch über sein Verhalten nachdenken kann. Es folgt eine kurze Beobachtung.
Umgebung: ICE-Bahnsteig, im Nichtraucher-Bereich, ca. 15:00 Uhr. Ein Raucher bewirft den einfahrenden Zug mit seiner Zigarette.
Fazit: Dieses Exemplar war bereits mit dem Finden des deutlich markierten Raucherbereichs überfordert. Dass es vor einer unerwarteten Situation nur “in den Kopf flüchten” kann, passt ins Bild.
Da alle Experimente nach einem dieser drei Muster verlaufen, ist derzeit keine Aussage über die Beweggründe der Müll-Szene möglich.